Muss ich dem Nachbarn ein Notwegrecht gewähren – und was bekomme ich dafür?

Der rechtliche Anspruch auf einen Notweg

Stellen Sie sich vor, Ihr Grundstück grenzt an das eines Nachbarn, der ohne Zugang zur öffentlichen Strasse dasteht. Genau hier greift Art. 694 ZGB: Wer keinen genügenden Zugang zu einer öffentlichen Strasse hat, kann ein Notwegrecht verlangen – auch gegen den Willen der Nachbarn. Doch dieses Recht ist kein Freipass: Es handelt sich um einen gesetzlichen Ausnahmefall, der hohen Hürden unterliegt.

 

Notwegrecht = Enteignung?

Die Gewährung eines Notwegrechts ist rechtlich heikel, denn sie stellt eine Art privatrechtliche Enteignung dar. Deshalb muss der betroffene Grundeigentümer vor Gericht vollständig darlegen, dass er alle anderen (öffentlich-rechtlichen) Möglichkeiten zur Erschliessung ausgeschöpft hat. Erst wenn das belegt ist, kann ein Notweg beansprucht werden – und auch dann nur gegen volle Entschädigung.

 

Was bedeutet «volle Entschädigung»?

Die Entschädigung für das Notwegrecht orientiert sich an Grundsätzen des Enteignungsrechts. Dabei geht es nicht darum, was der Begünstigte gewinnt, sondern welchen Schaden der belastete Nachbar erleidet. Das Bundesgericht hat in seinem Urteil BGE 120 II 423 klargestellt: Die Entschädigung bemisst sich grundsätzlich nach der Differenz des Verkehrswerts zwischen dem unbelasteten Grundstück und demjenigen mit Notwegbelastung.

 

Sonderfall: Nutzung einer bestehenden Zufahrt

Besonders interessant ist die Regelung, wenn der Notweg über eine bereits bestehende Privatstrasse führt: In diesem Fall ist eine pauschale Differenzberechnung oft unpraktisch. Das Gericht darf hier auf eine wertbezogene Beteiligung am konkreten Flächenwert der beanspruchten Parzelle abstellen – mit anderen Worten: Der Begünstigte «kauft sich ein» in die bestehende Infrastruktur.

 

Was heisst das für Sie in der Praxis?

  • Bereits bestehende Strasse? → Der Notwegberechtigte kann verpflichtet werden, sich angemessen an den Kosten oder am Wert des Weges zu beteiligen.

  • Neue Wegerschliessung nötig? → Die Kosten trägt in der Regel ausschliesslich derjenige, der den Notweg verlangt.

  • Wartungskosten? → Auch bei Mitbenutzung bestehender Wege ist der Begünstigte verpflichtet, zum Unterhalt beizutragen.

  • Veränderungen? → Sowohl der Begünstigte als auch der belastete Nachbar können eine Anpassung des Weges verlangen, wenn sich die Verhältnisse ändern (vgl. Art. 736, 742 ZGB).

 

Fazit

Ein Notwegrecht ist kein leichtfertig gewährtes Recht, sondern ein sorgfältig abgewogener Ausnahmefall. Die Interessen beider Seiten – Zugang und Eigentumsschutz – müssen fair ausgeglichen werden. Die Entschädigung orientiert sich dabei nicht an Wünschen, sondern an der tatsächlichen Wertminderung des betroffenen Grundstücks. Und: Wer den Notweg nutzt, muss in jedem Fall angemessen zahlen.

 

Tipp vom Fachanwalt: Bevor Sie als Nachbar einem Notwegrecht zustimmen – oder es verlangen – lohnt sich eine rechtliche Prüfung. Denn jedes Grundstück ist anders, jeder Fall einzigartig.